Sonntag, 23. Oktober 2011

Herr Paul und seine Leiden (1)


HERR PAUL UND SEINE LEIDEN
. .
DESSUS DESSOUS
oder
Dann kam Friederich
.
Eine kurze, groteske Geschichte
von
Oliver Siegl
(2009)
V O R S P I E L
EINS oder der, der in der Wand wohnt
Hartmut war einer von jenen Menschen, die die Natur und ihre Bewohner schätzten und liebten. Er hatte schon immer eine tiefere Bindung zu Bäumen als zu den Kindern in seiner Klasse und so wunderte sich niemand, dass Hartmut manchmal stundenlang im Wald war und mit den Bäumen sprach. Besonders mit einem Baum redete er viel. Er nannte sie Sieglinde. Sie war eine Dame, das hatte er von Anfang an gewusst, denn er hatte die Gabe, die männlichen von den weiblichen Bäumen zu unterscheiden. Er wusste, dass war etwas besonderes. Er konnte die Schmerzen der Natur förmlich spüren und so zuckte er jedes Mal zusammen, wenn irgendwo ein Tier starb oder ein Baum gefällt wurde. Immer wenn das geschah, lief Hartmut zu seiner Sieglinde. Sie war ein großer, alter Baum, dem es an Verstand nicht fehlte. Eines Tages, als seine Eltern mal wieder beschäftigt waren, ging Hartmut in den Wald und wollte seine Liebste besuchen, doch als er ankam, war sie fort. Nur noch ein großes Loch an ihrer Stelle. Hartmut war zu Tode betrübt und erlitt einen schweren Schock. Sieben Tage und sieben Nächte lag Hartmut dort bis ihn seine Eltern fanden. Er vermutete, dass sein Vater den Baum abgeholzt hatte, um ihn für den Bau des Hauses zu benutzen. Zu Hause angekommen, kroch er zwischen die Holzwände und streichelte das Holz, von dem er dachte es sei seine Sieglinde. Irgendwann schlief er ein und träumte von vielen Bäumen, die fröhlich auf einer Wiese herumtollten. Seine Eltern merkten es nicht, dass ihr Ältester zwischen den Wänden schlief und schlossen das Loch.
Hartmut sollte für sehr lange Zeit nicht wieder gesehen werden. Seine Eltern suchten noch lange nach ihm. Sie durchforsteten die ganze Gegend, doch sie sollten ihn nicht finden.
Eines Tages verschwanden auch sie auf mysteriöse Weise.

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