Sonntag, 23. Oktober 2011

Franz Kafka - „Die Verwandlung“ (2)

Interpretations- und Diskussionsansätze
Eine Problematisierung
Interpretationen zu schreiben ist oft recht schwierig, denn man muss sich nicht nur auf den Autor, sondern auch auf das Werk einlassen. Den richtigen Ansatz zu finden ist sehr schwer, wobei es ein richtig oder falsch bei Interpretationen nicht gibt, solange die Vermutungen ausreichend begründet und textimmanent nachgewiesen werden können. So unterschiedlich wie die Menschen sind, so vielfältig werden auch ihre Interpretationen ausfallen, was die Sache an sich viel interessanter macht. Man kann aber auch gewisse Ansätze bieten, um den Eingang zu erleichtern. Im Falle der „Verwandlung“ lassen sich aber recht schnell einige Punkte finden.
Vier Interpretationsansätze möchte ich aufzeigen und in Ansätzen darstellen, um so eine Problematisierung vornehmen zu können. Ein erster ist die Auseinandersetzung mit der Verfremdung menschlicher Existenz in der kommunikationsarmen und funktionalisierten Gesellschaft der Moderne. Was bedeutet das? Die moderne Gesellschaft ist eine schnelle Gesellschaft, die darauf eingestellt ist, praktisch und möglichst aufwandslos zu agieren. Dieser Trend wird unterstützt durch zahlreiche Erfindungen, die die Kommunikation zwischen den Menschen stark einschränken. Doch dieses Phänomen betrifft nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Privathaushalte. Im Falle Gregors wird extrem wenig miteinander gesprochen. Dadurch entstehen Probleme, die, wenn sie nicht besprochen werden, zu einem gewaltigen Konfliktpotenzial avancieren. Wenn kommuniziert wird, kommt es öfter zu Missverständnissen und unbegründeten Konfliktsituationen. Der Leidtragende wird immer weniger erzählen und so den Verfremdungsprozess beschleunigen. Und umso fremder man sich wird, desto weniger redet man miteinander. Nur noch das Nötigste wird besprochen. Ein zweiter Ansatz wäre die Deutung der Verwandlung als ein fehlgeschlagener Versuch Gregors, sich von seinen Eltern zu emanzipieren. Dabei handelt es sich einfach nur um den Loslösungsprozess eines, stark von seinem Elternhaus abhängigen, Jungen, der missglückt. Inwiefern dieser missglückt, bleibt unbeantwortet. Der Tod Gregors kann durchaus als eine Lösung vom Elternhaus gesehen werden, die einzige. Man kann sich nicht von seinem Zu Hause los sagen, denn es begegnet einem überall. Die Krise eines Menschen in der Beziehung zur menschlichen Gesellschaft, die in innerer und äußerer Isolation, Kommunikationslosigkeit und psychischer Selbstzerstörung endet, ist der dritte Ansatz, den ich hier bieten möchte. Dieser schließt sich direkt an den Erstgenannten an, denn hier ist es nicht nur die Familie, die betroffen ist, sondern die Gesellschaft. Sie besitzt die Macht, Einzelne völlig zu verdrängen, sei es durch Andersartigkeit, wie bei Gregor, oder durch falsches Verhalten. Dadurch, dass Gregor ausgegrenzt wird, hat er keine Chance mehr, sich zu integrieren. Er wird durch seine erzwungene Isolation zur Kommunikationslosigkeit verdammt, was wiederum zur Folge hat, dass er sich selbst nicht mehr wahrnehmen kann. Der Mensch ist auf soziale Kontakte angewiesen. Ohne sie leidet nicht nur sein Geist, sondern auch sein Seelenheil und das führt letztlich in die psychische Selbstzerstörung. Gregor empfand sich am Ende selbst als eine Last und war bereit zu sterben. Allein diese Tatsache spricht für diese These. Wie sehr eine misslungene Identitätsfindung zur Selbstzerstörung führen kann, will ich in meinem vierten und letzten Ansatz erklären. Wann findet man seine Identität? Der Mensch ist ab einem bestimmten Punkt in seinem Leben dazu bereit, er selbst zu werden. Anfänglich müssen unsere Eltern uns dabei helfen JEMAND zu sein, doch mit jeder neuen, eigenen Errungenschaft wächst unser Selbstbewusstsein und unser Bewusstsein, jemand zu sein. Kommt es in der kritischen Phase, nämlich der Kindheit und Jugend, zu Krisen, in dieser Entwicklung, dieser Abnabelung, sind wir stark gefährdet, weil wir selbst nicht wissen, wer wir sind. Diese selbstzerstörerische Radikalität kann uns, nach der Bedeutungslosigkeit, auch in den Tod führen.
Die aufgezählten Interpretationsansätze werfen jedoch unzählige Fragen auf, die zugleich Stoff für eine Diskussion werden können. So stellt sich die Frage, was dazu führen kann, Menschen aus der Gesellschaft zu verstoßen. Wie weit darf der Mensch gehen, um nicht verstoßen zu werden und ist es moralisch überhaupt vertretbar, einen Menschen zu verstoßen? Warum sind die Menschen so undankbar und was ist der Grund für die unterkühlte Reaktion der Familie Gregors? Inwiefern spielt die Zeit der Handlung eine Rolle? Ist das Glück Gregors, welches vor seiner Verwandlung präsent war, wirklich Glück? Wenn ja, für wen? Was ist Glück? (für Gregor, seinen Vater, die Mutter und die Schwester). Nach der „Verwandlung“ wandten sich nach und nach die einzelnen Familienmitglieder von Gregor ab. Warum? Ist das generell so und wieso neigt der Mensch dazu, zu den Menschen zu halten, die zum einen stabil und zum anderen „normal“ sind? Wieso resigniert Gregor so schnell? Wann resigniert der Mensch insgesamt und was treibt ihn dazu? Muss die Gesellschaft nicht moralisch dazu verpflichtet sein, ihre Mitmenschen aufzufangen? Wäre nicht das sogar ein utilitaristischer Ansatz? Inwiefern ist dieser sinnvoll? Was kann einen Menschen, wie Gregor, zu solchem Selbsthass führen? Ist nicht auch immer das Umfeld am Unglück einer Person schuld?

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